Rückblick

33. Pole Poppenspäler Tage 2016

Mario & der Zauberer
Bühne Cipolla, Bremen

In "American Psycho" versteht es Brad Easton Ellis meisterhaft, seine Leser seitenlang mit Banalitäten zu verwirren. Es geht um Musik, Mode, Freunde, Arbeit – die alltäglichen Dinge des Lebens. Irgendwann liest man, dass im Kühlschrank ein Finger liegt, aber man ist bereits mit so viel Small Talk zugeschüttet, dass man es kaum noch wahrnimmt. Aber man stutzt . . . und die Grausamkeiten treten langsam ans Licht, spitzen sich zu und eskalieren aufs Böseste. Ähnlich inszeniert die Bühne Cipolla Thomas Manns Novelle "Mario und der Zauberer". Der Magier, er nennt sich ebenfalls Cipolla, erscheint für einen kurzen Augenblick am Anfang des Stücks, eine fast mannshohe Klappmaulfigur die sofort den Eindruck eines beherrschenden und befehlsgewohnten Mannes erweckt. Aber es bleibt vorerst beim Fingerzeig. Nur wenig später ist er verschwunden und der Spieler, Sebastian Kautz, führt auf amüsante Weise durch einen Italienurlaub. Ein mondäner Badeort im Süden Italiens, die gar nicht so gern gesehenen, aber leider notwendigen Touristen – das Stück spielt in den 20er/30er Jahren des 20. Jahrhunderts – geben sich dem Strandleben, dem dolce Vita hin und sonnen sich in ihrer kleinkarierten Welt. Es wird hingenommen, dass ein rotzfreches Kind das Strandpublikum penetriert oder staatliche Bedienstete ein maßloses Bakschisch erzwingen. Es ist brüllend heiß (war es im Husumer Rathaus auch!) und die Idylle des Bella Italia entpuppt sich bei näherem Hinsehen als eine touristische Folter. Anschaulich wird das spießige, auf sich selbst zurückgezogene Italien an einer der bürokratischen Autoritäten. Mit zwei Handgriffen zaubert Kautz aus einem Regenschirm einen aufgeblasenen, beschlipsten Ministerialbeamten, ein ochsenfroschiger Dickwanst, der der Belustigung der Zuschauer dient, ohne es zu merken. So plätschert das Strandleben und Sebastian Kautz zeichnet auf einer großen Schiefertafel die den Hintergrund der Bühne bildet, diesen Teil Italiens: Schiffe, Strand, Sonne – eine entspannte Atmosphäre, humorig bespielt. Als die Tafel aufgeklappt wird, kippt die Stimmung. Die Bühne wird zur Schaubude des Magiers Cipolla, ein Gaukler, ein versierter Hypnotiseur. Als ihm ein Zuschauereinwurf missfällt, bring der den armen Kerl dazu, sich die Zunge aus dem Hals zu reißen. Larmoyant geht er über diesen Vorfall hinweg und bindet das reale Theaterpublikum in sein Spiel ein. Luftballons werden in den Zuschauerraum befördert, die es bitte gilt, nicht auf den Boden kommen zu lassen. Dabei wird noch einmal die Bedeutung der Farben ins Bewusstsein gerufen: rot wie die Liebe; grün wie die Hoffnung, usw.. Das Publikum stellt fest, dass es sich manipulieren lässt, es wird gar zu einem Teil der Inszenierung. Doch der Spaß ist ungebrochen! Begleitet wird das Stück von Gero John, einem großartigen Cellisten, der, gestützt auf ein erstklassiges Soundsystem, das Spiel live begleitet. In wiederkehrenden Loops entwirft er die musikalische Entsprechung der jeweiligen Stimmung. Als ihm Cipolla eine Maske aufsetzt, wird der Cellist zu nicht als einer schweinsnasigen Fratze abstrahiert. Langsam zeichnet es sich ab: Das mannsche Motiv des langsamen Zustrebens auf den Abgrund, keine Neuinterpretation aber eine pointiert in Szene gesetzte Perfidie. Dass Sebastian Kautz eine schauspielerische Ausbildung genossen hat, macht sich wohltuend bemerkbar, ja, es ist ein Glücksfall. Endlich wieder ein Figurenspieler, der seinen Text sprich, ihn sprechen kann. Es ist die Sprache Thomas Manns: scharf, akzentuiert, böse und eindringlich. Mario ist unter den Zuschauern, ein netter junger Mann, Kellner in einer Bar und unglücklich verliebt. Als er sich von Cipolla hypnotisieren lässt, verdichtet sich das Geschehe in einem obszönen Höhepunkt. Der bewusstlose Marion wird in die Luft gehoben, wehrlos, erniedrigt. Cipolla küsst ihn hemmungslos, vor den Augen des Jahrmarktpublikums und die Art und Weise kommt einer Vergewaltigung gleich. Als Mario aus der Trance erwacht, erschießt er den Zauberer. in der Schussszene tanzen Mario und der Puppenspieler einen dramatischen, Anne Rice’s Lestat nachempfundenen Totentanz und über dem Paar schwebt der letzte übrig gebliebene Luftballon, weiß, als Symbol der Reinheit. Das mag jeder für sich selbst interpretieren wie er möchte. Eindeutig jedoch, dass die Pole Poppenspäler Tage 2016 hier ein grandioses Highlight erlebt haben, elegant gespielt und eindringlich übersetzt.
Torsten Zajwert